Viele von uns wollen es nicht, können es nicht, umgehen es. Viele genießen, lieben es oder hassen es. Das Alleinsein. Mir fällt auf, dass das Wort allein einen leicht negativen Nachklang mit sich bringt. „Ich reise allein.“ „Ich bin Single.“ Es ist, als müsse ich mich ständig dafür rechtfertigen.
„Mach dir keine Sorgen, der Richtige kommt schon noch“, höre ich. Oder: „Ich kann absolut nicht verstehen, warum du alleine bist.“ Meistens folgen dann noch ein paar Aufzählungen meines Lebenslaufs, tabellarisch natürlich, nur um sicher zu gehen, dass ich ja nichts vergessen habe. „Du hast doch studiert und deine Sprachkenntnisse erst. Wundert mich eigentlich, dass du immer noch allein bist.“ Wie immer ignoriere ich es. Genauso wie die ständigen Verkupplungsversuche meiner Verwandtschaft. Wie der Zufall es so will, klingelt dann auch noch mein angeblicher „Traummann“ an der Tür. Welch eine Überraschung! „Er kommt aus einer guten Familie“, versichert meine Tante hocherfreut. „Seine Eltern sind Akademiker, er studiert Medizin und er ist auch Single. Ganz toll.“ Ja, ganz toll. Ich kann mich vor Begeisterung kaum halten. Dass er ewiger Junggeselle ist und mit dreißig noch bei seinen Eltern lebt, wäre vielleicht auch ein kleines, erwähnenswertes Detail. Es ist, als würden sie das Alleinsein als eine Krankheit diagnostizieren, bei der sie krampfhaft und verzweifelt versuchen, das Wunderheilmittel zu finden.
Dass ich das Gesprächsthema Nummer 1 bin, weiß ich. Mit Mitte zwanzig noch kein Mann in Sicht, keine Familie. Und dann auch noch diese WG, nur von Chaoten umgeben. Schwierig, in so einem Umfeld erwachsen zu werden. Addiert man alle Worte, alle Vorurteile zusammen, ergibt jede Parabel, jede Gleichung immer dasselbe: alleine = einsam. Sofort hat man eine Vorstellung von einer verletzlichen, hilflosen, verlorenen Singlefrau. Klammernd und verzweifelt hangelt sie sich von Mann zu Mann und von Beziehung zu Beziehung auf der Suche nach dem wahren Glück, der Suche nach der einen, großen Liebe. Aus Frust und Unlust hat sie bereits die zehnte Diät in Folge ausprobiert, das Fitnessstudio gekündigt, die Hoffnung aufgegeben und ist nach unzähligen Dates wieder in tiefer Trauer versunken.
In der Nacht verwandelt sich ihr Gedankenkarussell in Europas größten Vergnügungspark und sie analysiert jedes Indiz, weswegen sich ihr Date bis jetzt noch nicht gemeldet hat, bis ins Detail. Immerhin sind schon sieben Stunden vergangen.
Vielleicht hatte er einen Unfall, weil das Auto schon das letzte Mal nicht angesprungen ist. Vielleicht wurde er gekündigt und ist obdachlos, weil er neulich von Problemen auf der Arbeit erzählt hatte. Mitleidige Blicke, wenn sie abends ohne Begleitung kommt, tröstende Worte, wenn sie die Party allein verlässt. Valentinstag ist für sie die reinste Katastrophe.
Zwischen Liebesdramen und zu viel Wein intus plant sie bereits ihre Beerdigung. Sie ist deprimiert und einsam.
Aber das ist nur unser Bild von ihr. Vielleicht ist sie es gar nicht, vielleicht geht es ihr wie mir. Sie ist alleine, weil sie alleine sein möchte. Dabei ist sie keineswegs ein Einzelgänger, sie liebt und genießt die Gesellschaft – aber auch die Gesellschaft mit sich selbst. Auf die Party ist sie bewusst ohne Begleitung gekommen, weil sie frei und losgelöst ist. Vor allem von Erwartungen, Ansprüchen und Zweifeln, sich selbst und anderen gegenüber. Abends schaut sie sich keine traurigen Liebestragödien an und versinkt auch nicht in Selbstmitleid, sondern liebt es, Netflix-Serien in Dauerschleife zu sehen und ist dabei so emotional, dass es für ihr Umfeld unzumutbar wäre.
Sie liebt es, in den Tag hineinzuleben. Sie beschließt, spontan nach Barcelona zu fliegen, geht schick essen – und auch wenn sie nur von Paaren umgeben ist, genießt sie den Ausblick der Stadt und stößt mit sich selbst an. Das macht ihr nichts aus. Sie freut sich nach einem exzessiven Wochenende morgens am Küchenfenster zu sitzen und mit einer Tasse Kaffee die Stille zu genießen. Und das ohne Verzweiflung, ohne Trauer und Einsamkeit und dem ganzen drum und dran. Sie ruht in sich. Und so melancholisch das auch klingen mag, ich versteh sie.
„Aber warum nur?“, fragen mich dann alle erschüttert. Immer dieselben verwunderten Gesichter. „Ich könnte mir das nie vorstellen. So ganz alleine.“ Ich habe aufgehört, es ihnen zu erklären. Weil sie dieses Gefühl nie nachempfunden haben und mich nie ganz verstehen werden. Vermutlich, weil sie das Alleinsein als einen notgedrungenen Zustand, eine vorübergehende Situation, eine kurze, überwindbare Phase ansehen. Sie haben es nie ausprobiert, nie zugelassen. Aus Angst vor dem Kontrollverlust, der Befindlichkeit oder den Vorurteilen von außen. Oder vor der Vorstellung, den Gedanken selbst. Angst, sich in dem Gestrick zu verlieren und den Ausgang des Gedankenkarussells nicht mehr zu finden. Dabei ist der Ausgang sehr leicht zu finden, wenn man sich zum Beispiel eine Karte besorgt und keinen Vergnügungspark daraus baut. Ein Bauunternehmen zu engagieren wäre nicht schlecht. Um den Vergnügungspark abzureißen. (Kein Berliner Bauunternehmen vielleicht …)
Wir selbst sind die größten Magier, hypnotisieren unser Bewusstsein täglich und verfallen dabei so sehr in Ekstase, dass wir inzwischen Wahrheit, Klarheit und Illusion nicht mehr unterscheiden können. Zum Beispiel, dass unser Glück von der Liebe abhängt und wir alleine schwächer sind. Nur bedeutet ein Partner nicht, dass auch die Summe der Kräfte doppelt so hoch ist. Und erst recht bedeutet es nicht, dass wir unsterblich dadurch werden und Superkräfte entwickeln können. Denn hier geht die Rechnung nicht auf. Ein Partner kann uns zwar sehr viel geben, uns aber nicht ersetzen. Er kann uns erfüllen aber unseren inneren Mangel nicht begleichen. Denn wenn wir eine Partnerschaft eingehen, sind wir immer noch der gleiche Charakter, mit unseren Mängeln und unseren Schwächen. Statt ständig zwanghaft nach dem Glück zu streben, sollten wir entspannen, den Vergnügungspark ausmisten und über eine mögliche Umschulung nachdenken.
Unsere Mängel, unsere tiefsten Ängste und Zweifel können nur wir allein bewältigen. Die Verantwortung auf jemanden anderes zu übertragen ist unfair dem Partner gegenüber und auch sich selbst. Und das Gefühl von Angst, Leere und vor allem der Einsamkeit kann auch in einer falschen Partnerschaft auftreten – und nichts ist schlimmer als einsam in der Zweisamkeit zu sein. Bevor wir also jemanden lieben, sollten wir zunächst uns selbst Daten.
Und ja, der Verdacht auf Schizophrenie ist eindeutig ausgeschlossen. Viel Spaß dabei!