„Manchmal denke ich, es wird alles zu viel, ich kann nicht mehr. Und dann, wie aus dem Nichts ist sie wieder, diese Kraft, die mich antreibt.“ – über eine starke Mutter und ihr Leben mit ihrem behinderten Kind.
„Kurz nach der Geburt hieß es immer: Irgendetwas stimmt mit diesem Kind nicht.“
Mein Sohn Kilian, geb. 2006, hat eine sehr seltene Erkrankung. Kurz nach der Geburt hieß es immer: Irgendetwas stimmt mit diesem Kind nicht, was wissen wir auch nicht. Für mich als Mutter der absolute Horror. Ich hatte einen Säugling, der nach dem Kaiserschnitt aufhörte zu atmen, Anpassungsstörungen hatte, nicht ausreichend trank, über keinerlei Körperspannung verfügte. Und dabei wollte ich doch nur ein zweites Kind. Gerade acht Tage alt, war mein Kind jetzt auch noch schwer herzkrank. Mit dem nett gemeinten Rat, lassen Sie ihr Kind nicht unnötig schreien und halten sie Aufregung von ihm fern, wurde ich verabschiedet. Es folgte eine Odyssee…Unzählige Ärzte, Kliniken.
Viele mögliche Diagnosen wurden uns mal mehr, mal weniger sensibel übermittelt. Unser Leben stand von einer Sekunde auf dem Kopf. Durchwachte Nächte, ein Leben abseits jeder Norm, das war von nun an unser heiles, glückliches Familienleben. Kilians Zustand verschlechterte sich zusehends. Mit sechs Monaten erfolgte der Herzkatheter. Leider brachte dieser nicht den gewünschten Erfolg. Aber eine Verdachtsdiagnose begleitete uns von nun an. Das Noonan-Syndrom. Dieses komplexe Fehlbildungssyndrom zählt mit zu den seltenen Erkrankungen überhaupt.
Es können leider noch nicht alle Gene benannt werden, die für dieses Syndrom zuständig sind. Neun Jahre mussten wir auf die Bestätigung warten. Es gibt mehrere Mutationen. Kilian hat eine erwischt, die vor ihm nur zweimal publiziert weltweit wurden. Er ist die Nummer Drei. Was bedeutet das für uns? Es gibt keine Vergleichsmöglichkeiten, das heißt eine Prognose, einen Fahrplan quasi gibt es nicht.
„Eigene Bedürfnisse treten da leicht in den Hintergrund.“
Zu Kilians Gendefekt gehören: komplexer Herzfehler, Kleinwuchs, Sehbehinderung, geistige Behinderung, stark entwicklungsverzögert etc. Zum Syndrom hat Kilian noch zusätzliche Baustellen: zyklisches Erbrechen, atypischer Autismus. Nach den ersten zehn Jahren können wir auf 38 Klinikaufenthalte, neun Operationen, unzählige Arzttermine, Therapien zurückblicken. Das schränkt uns natürlich auch viel im Leben ein.
Um unseren Alltag zu stemmen, brauchen wir ein gut funktionierendes soziales Netzwerk; Ärzte, Therapeuten, Kliniken, Familien entlastender Dienst, Krankenkassen, Pflegekasse, Eingliederungshilfe, Frühforderung, Heilpädagogischer Kindergarten, Förderzentrum, Sanitätshaus…
Während gesunde Kinder in den Sportverein gehen oder Freunde besuchen, geht mein Kind seit zehn Jahren brav zur Physiotherapie. Mehrmals pro Jahr gönnen wir uns und ihm die Reittherapie. Anstelle einer Musikschule besucht Kilian die Musiktherapie. Er ist mit seinen 10 Jahren auf dem Entwicklungsstand eines 2- 3 jährigen, trägt Tag und Nacht Windeln. Da normale Nahrung nicht ausreicht, trinkt er „Astronautennahrung“ aus der Nuckelflasche. Ausflüge und Urlaube müssen sorgsam geplant werden. Wegen des Autismus ist uns fast jede Spontanität abhanden gekommen. Kilian benötigt eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung.
Die Vormittage nutze ich für den Haushalt, Telefonate, Behördengänge, eigene Arzttermine, Einkäufe. Wären da nicht plötzliche Klinikaufenthalte, diese fordern von uns enorme Flexibilität. Eigene Bedürfnisse treten da leicht in den Hintergrund. Ich bin froh und dankbar, dass ich einen Ehemann habe, der zu seiner Familie steht. Wir erleben es im Bekanntenkreis, das die Beziehungen oft nicht stabil genug sind. Wir engagieren uns beide in der Selbsthilfe, gehen zum Sport, haben unseren Hund und stützen uns gegenseitig.
„Es gibt Mütter, die diesem Schicksal nicht gewachsen sind.“
Manchmal denke ich, es wird alles zu viel, ich kann nicht mehr. Und dann, wie aus dem Nichts ist sie wieder, diese Kraft, die mich antreibt. Nicht alle Mütter können das. Ich hatte die Wahl, aufgeben oder kämpfen. Kämpfen für ein halbwegs erträgliches Leben abseits der Norm. Unser Sohn wird nie selbständig leben können, er wird immer auf Hilfe angewiesen sein. Unser Leben wurde durch Kilian entschleunigt.
Er lebt und entwickelt sich in seinem ganz eigenen Tempo. Laufen konnte er erst mit vier Jahren. Da ist Geduld und unerschütterlicher Glaube gefragt. Oft wurde mir in den Jahren gesagt: „Das könnte ich nicht, ein behindertes Kind, auf keinen Fall“. Wenn ich dann antworte: „Doch, als Mutter kann Frau das“, ernte ich Kopfschütteln.
Und in der Tat gibt es Mütter, die diesem Schicksal nicht gewachsen sind. Für mich gab es keine anderen Optionen. Ich liebe meine Kinder und bin für sie da, in welcher Form auch immer. Mitleid begegnet uns auch, leider. Unser Leben ist keinesfalls bemitleidenswert. Mitgefühl, das brauchen wir ebenso wie viel Verständnis. Neben all den Schwierigkeiten, den Ängsten, dem wenigen Schlaf gibt es viele unfassbar schöne Momente.
Wir durften Menschen und Orte kennenlernen, die uns ohne Kilian verschlossen wären. Wir sind dankbar, können den Moment genießen. Frei nach dem Motto : Carpe Diem! Können wir abschalten. Wer sich auf das Abenteuer Behinderung einlässt, kann daran wachsen, seinen Horizont erweitern. Ich wünsche mir mehr Toleranz allem gegenüber, das irgendwie anders ist.